Medizinische Blutegeltherapie

22.09.2023
32_Blutegeltherapie
Weiterempfehlen
Kategorie:

Die Blutegeltherapie erlebte vor einigen Jahrzehnten durch wissenschaftliche Studien und renommierte Veröffentlichungen eine internationale Renaissance. Zum therapeutischen Einsatz am Menschen eignen sich nur wenige Vertreter der biologischen Klasse der Egel (Hirudinea). In Europa finden hierzu überwiegend der Hirudo medicinalis (Preussischer Blutegel) und der Hirudo verbana (Ungarischer Blutegel) Verwendung.

 

Medizinische Blutegel stehen in Deutschland unter Naturschutz und werden daher für die Anwendung am Menschen in speziell zugelassenen Blutegelfarmen gezüchtet. Sie unterliegen den gleichen Anforderungen an Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit wie zulassungspflichtige Medikamente.

 

Beim therapeutischen Einsatz wird abhängig von der Indikation eine unterschiedliche Anzahl von Blutegeln (meist zwei bis sechs pro Sitzung) an bestimmten Körperstellen angesetzt. Die Ansatzstellen sind nicht beliebig und werden auch nicht uneingeschränkt der Vorliebe der Blutegel überlassen.

 

Vielmehr richten sie sich nach dem therapeutischen Konzept, das der Blutegelanwender in Abwägung der krankheitsspezifischen Notwendigkeit und der Belastbarkeit und des körperlichen Zustandes der Patientinnen und Patienten festsetzt.

 

Grundsätzlich wird dabei die lokale von der systemischen Blutegelanwendung unterschieden. Ein lokales Problem, z. B. eine Entzündung oder eine umschriebene Knochen- oder Gelenkerkrankung, lässt sich meist sehr gut mit lokal angesetzten Blutegeln behandeln. Die Wirkung ist dann überwiegend auf die behandelte Region beschränkt, ein geringer Anteil der Wirkung betrifft jedoch auch das gesamte System Mensch.

 

Wenn keine rein lokale Problematik vorliegt, sondern eine systemische Erkrankung den Beschwerden zugrunde liegt (z. B. Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis), werden die Blutegel eher über definierte Reflexzonen am menschlichen Körper angesetzt, z. B. über die Sakralzone (Michaelisraute) oder über die Nackenzone.

 

Mit der Loslösung von rein symptomatischen Konzepten wird der Komplexität des menschlichen Organismus Rechnung getragen. Die zu erwartende Wirkung betrifft dann auch das gesamte System Mensch und ist damit in der Lage, die vorliegende Systemerkrankung positiv zu beeinflussen.

 

Bei Akzeptanz der ausgewählten Ansatzstellen am menschlichen Körper durch die Blutegel saugen sie sich mit den Saugnäpfen an Kopf und Körperende dort fest und beginnen, die Haut mit ihren drei Kieferleisten im Kopfbereich anzuritzen. Der Biss ist schmerzarm und entspricht einem vorübergehenden leichten Stechen oder Brennen (wie bei Mückenstich oder bei Berührung mit Brennnesseln).

 

Wenn die pyramidenförmigen Zähnchen maximal 1,5 Millimeter tief in die Haut eingedrungen sind, gelangt der Blutegel an blutführende Hautschichten. Dort beginnt er mithilfe des starken Unterdruckes des Saugvorganges seine Blutmahlzeit, die in der klassischen Naturheilkunde mit „Ausleitung“ beschrieben wird.

 

Zeitgleich gibt er über seinen Speichel, die Saliva, einen Wirkstoffcocktail ab, welcher eine Vielzahl von Substanzen enthält, die zunächst schmerzlindernd und gerinnungshemmend wirken, damit der Saugakt ungehindert fortgesetzt werden kann. Die im Blutegel und im abgegebenen Speichel enthaltenen biologisch aktiven Substanzen (BAS) unterstützen dann die vielfältigen Effekte der späteren Heilung.

 

So finden sich im Wirkstoffcocktail der Blutegel vasoaktive Neurotransmitter wie Histamin und Serotonin (Kapillardilatation/Vasokonstruktion), lysierende Substanzen wie Hyaluronidasen, Lipasen und Destabilasen (Spaltung der Hyaluronsäure, Lipolyse, Thrombolyse), die Blutgerinnung beeinflussende Substanzen wie Hirudin und Calin (Hemmung von Faktoren der Blutgerinnung), immunmodulierende Substanzen wie Destabilase (lysierend, antimikrobiell), neurotrophe Substanzen wie Hirudin (Regulierung des Nervenwachstums und Schutz von Nervenzellen) und schließlich entzündungshemmende Substanzen wie Bdellin, Hirustasin und Egline.

 

Das Zusammenspiel der verschiedenen Wirkmechanismen der Blutegel und die Wechselwirkung zwischen Blutegel und Patientin oder Patient ermöglichen die erfolgreiche Anwendung medizinischer Blutegel bei einer großen Anzahl von Beschwerden. So können Blutegel lokal an betroffene Körperstellen oder systemisch an bestimmte Reflexzonen bei vielen Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates z. B. bei Arthrose, Arthritis, Tendinosen und muskulären Beschwerden eingesetzt werden.

 

Rheumatische Beschwerden und entzündlich rheumatische Erkrankungen lassen sich positiv durch die Anwendung medizinischer Blutegel beeinflussen. Auch in der Traumatologie bei Zerrungen und Verstauchungen, bei ausgeprägten Hämatomen oder postoperativen Komplikationen sind die Blutegel willkommene Helfer. In der Phlebologie, z. B. bei Varizen, Thrombosen oder chronisch venöser Insuffizienz und auch bei Hämorrhoiden oder zerebrovaskulärer Insuffizienz kommen Blutegel genauso unterstützend zum Einsatz wie bei kardiologischen Problemen oder arteriellem Bluthochdruck.

 

Auch bei oberflächlichen oder tiefen akuten oder chronischen Entzündungen, bei neurologischen Erkrankungen wie Kopfschmerzen, Neuropathie oder Herpes zoster, in der Hämatologie, in der Gynäkologie und Andrologie, bei HNO-Erkrankungen und in der Ophtalmologie können Blutegel ihr Potenzial als Heilende unter Beweis stellen. Immer gilt der Einsatz der Blutegel als ergänzende, vielfach unterstützende Maßnahme zur klassischen schulmedizinischen Therapie.


Da die Therapie mit medizinischen Blutegel aufgrund deren natürlichen Ursprunges und wegen der von den Blutegel verwendeten biologisch aktiven Substanzen (BAS) eine sehr gute Verträglichkeit aufweist und unerwünschte Nebenwirkungen sehr selten sind, gehört sie in der Hand erfahrener Blutegelanwender und Therapeuten gerade bei hartnäckigen Beschwerden auch heute noch zu den zu bevorzugenden Therapieverfahren.
_________________________________________________________________________
Text: Dr. Rainer Klügel
© PACs Verlag GmbH
Foto ©: Sergey Lukyanov – istockphoto – thinkstock